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Schönenberg
Auf den Spuren der Grenzsteine
      

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Portrait der Gemarkung Schönenberg im Schwarzwald

     
     

Teresa Quast
Auf den Spuren der Grenzsteine
Portrait der Gemarkung Schönenberg im Schwarzwald

1. Wie fassen wir die Welt in Worte?
„Wo nur Bäume, Moos, Steine und Graskuppen gewesen waren, spannte sich jetzt ein Netz aus Geraden, Winkeln und Zahlen. Nichts, was einmal jemand vermessen hatte, war noch oder konnte je sein wie zuvor."1

1.1 Die Natur handhabbar machen
Lässt man den Blick vom Belchen hinab über die Berge und Täler des Schwarzwalds streifen, ist es schwer vorstellbar, dass jedes Fleckchen Erde hier vermessen, kartiert, verteilt und benannt ist. Die Lektüre einschlägigen Kartenmaterials und entsprechender Vermessungsdaten verändert den Blick und lässt ein neues Bild der Gegend entstehen. Dieses neue Bild ist nicht länger Abbild der Natur, sondern Visualisierung dessen, was der Mensch dank seiner technischen Versiertheit aus der Natur macht. Seit Menschengedenken möchte er sie nicht nur sehen, sondern auch begreifen und benutzen können. Er entwickelt daher Techniken um die Natur seinen Bedürfnissen anzupassen, sie zu kultivieren. Zunächst geschieht diese Bezähmung der Natur unter Einsatz körperlicher Kraft wie beispielsweise durch die Rodung von Waldstrichen und Bepflanzung der Felder. Schließlich verfeinert sich die Technik zu einem Umgang mit zeichenhaftem Material wie der Schrift oder des Bildes, der dem Natürlichen buchstäblich einen kultivierenden Stempel aufdrückt. Die Natur wird von der Kultur unterworfen und somit handhabbar. Mittels unterschiedlicher Instrumente und Techniken wird die Natur zum Material. Ein solches Instrument ist die Karte. Sie organisiert die Natur in einer komprimierten Form und macht sie für jedermann anschaulich, der die entsprechende Lesart beherrscht, die Zeichen zu deuten gelernt hat. Sehen und sichtbar machen, lesen und lesbar machen, das sind die Grundzüge der Kulturtechnik des Kartierens. Die Karte bietet die ideale Vorraussetzung für das alte Bestreben des Menschen: Der Natur Herr zu werden. Auf der Grundlage der Karte kann er organisieren, archivieren, planen und normieren. In ihren „Topographien der Nation" bezeichnen die Schweizer Autoren David Gugerli und Daniel Speich die Karte sowohl als „Benennungsmacht" als auch als „Möglichkeitsraum" und rücken damit die politische Bedeutung der Kartographie in den Vordergrund. Für den Kulturphilosophen Michel de Certeau hingegen ist die Karte einfach ein System von geographischen Orten, welches als lesbares Resultat einer Raumbeschreibung fungiert.
Einer solchen Beschreibung muss jedoch zunächst eine Raumerfahrung voran gehen, die eine graphische Abstraktion erst ermöglicht. Jede Abbildung setzt ein Verstehen und Kennen des abzubildenden Gegenstandes voraus.

1.2 Der Raum und seine Praktiken in der Nahaufnahme
Doch wie kann ich zu diesem Verständnis eines Raumes gelangen? Auf welche Art und Weise lässt sich dieser Raum beschreiben und wie vermag man ihn zu entziffern? In meiner Arbeit stelle ich den erfahrenen Raum der abstrahierten Abbildung gegenüber. Als Untersuchungsfeld habe ich die Gemarkung Schönenberg im Schwarzwald ausgewählt.
Eine Gemarkung ist:
„[ein] Katasterbezirk, der gewöhnlich eine in sich geschlossene, möglichst natürlich begrenzte, abgerundete größere Masse von Flurstücken umfasst und in Fluren unterteilt sein kann. Gemarkung und Gemeindegebiet sollen sich nach Möglichkeit decken oder so aufeinander bezogen sein, dass ein Gemeindegebiet aus mehreren Gemarkungen besteht." Im Falle Schönenberg erstreckt sich dieser Bezirk auf 743 ha und umfasst neben dem Kerndorf die Weiler Entenschwand und Wildböllen. Die kleine Gemeinde im oberen Wiesental ist der Ort meiner Kindheit und es stellt somit ein spannendes Unterfangen für mich dar, die altbekannte Gegend aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive heraus zu betrachten. Als menschengemachter Raum erweist sich die Gemarkung als ein interessantes Spannungsfeld zwischen Kultur und Natur, sowohl vor Ort als auch in ihrer Abbildung. Nach dem Vorbild des Soziologen Bruno Latour soll die Koordinierung von Erfahrung und Abbildung der Gemarkung an der Leitfrage „Wie fassen wir die Welt in Worte?" orientiert sein. Der Arbeit liegt eine tatsächliche Begehung des Grenzverlaufs zugrunde, welche photographisch begleitet und dokumentiert wurde. Als Pendant zum praktischen Umgang mit der Wegstrecke ermöglichte eine Karte eine weitere Perspektive auf die Gemarkung. Eine dritte Orientierungshilfe stellten die Grenzsteine dar, die mittels eingravierter Richtungskerben als Wegweiser dienten. 5
Neben meinen persönlichen Eindrücken soll die Gemarkung so aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden, die diverse Aspekte aufwerfen, denen ich durch Recherche- und Interviewarbeit nachgehen möchte. Neben fachlicher Lektüre stützen sich meine Ausführungen hierbei in hohem Maß auf ein Gespräch mit Wulf Springhart aus Böllen, der benachbarten Gemarkung, am 29. August 2010. Als Vorstandsmitglied des Förderkreises des Heimatmuseums Klösterle in Schönau befasst sich Springhart bereits seit einiger Zeit mit der ortsbezogenen Kartographie und hat mittlerweile immer ausgefeiltere Methoden für sich entdeckt, um die Gemarkung visuell darzustellen. Besonders der Einsatz des Computerprogramms Google Earth erlaubt eine Perspektive auf die Gemarkung, die dem eigentlichen Sinne von Visualisierung, nämlich dem der Erkenntnisgewinnung, entspricht. Entlang der einzelnen Streckenabschnitte wird die Gemarkungsgrenze jeweils zunächst durch eine Wegbeschreibung vorgestellt. Den Letzberg hinauf durch den Rübgartenwald zum Gipfel des Belchens und schließlich über die Stuhlsebene hinab in die Wilde Belna zieht sich die Grenzlinie durch das Land. Meine persönlichen Eindrücke und Beobachtungen sollen einen ersten Eindruck entstehen lassen und auf die unterschiedlichen Aspekte hinführen, aus denen sich letztendlich das Portrait der Gemarkung Schönenberg zusammensetzt. Die Begehung fungiert demnach als roter Faden, an welchem die informativen Elemente sich orientieren. Die unterschiedlichen Perspektiven auf die Gemarkung betonen im Laufe der Arbeit eine Differenzierung zwischen Raum und Ort, Natur und Symbolik. Ein Fazit fasst diese Perspektiven abschließend noch einmal zusammen und setzt sie zueinander in Beziehung.

2. Den Letzberg hinauf
Am Morgen des 27. Juli 2010 stehe ich am Haslerfelsen, einem beliebten Ziel für Wanderer und Spaziergänger und Ausgangspunkt meiner Begehung entlang der Schönenberger Grenze. Ich kenne die Umgebung aus meiner Kindheit und weiß auch was mich erwartet, wenn ich, der Grenzlinie auf dem Papier folgend, den bewaldeten Steilhang in meinem Rücken hinaufklettern will. Die Karte lässt keinen Zweifel: Die gezeichnete Linie zeigt stur geradeaus, Richtung Gipfel des Letzberges. Zunächst gibt es keinen befestigten Weg. Querfeldein bohre ich die Wanderstiefel in den weichen Waldboden um die extreme Steigung auszugleichen. 6 Nach einer Weile heben sich schmale Pfade im Laub ab. Rotwild und Schwarzwild haben sich ihr eigenes Wegenetz durch den Wald geschaffen.
Durch das Dickicht schlängeln sich Wildpfade, die sich unmerklich vom umliegenden Hang abheben Kurz bevor ich den oberen Letzbergweg erreiche, stoße ich tatsächlich auf den ersten Grenzstein. Ich bin überrascht und freue mich. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir der Granitblock früher einmal aufgefallen wäre. Er ist nicht besonders groß und eher unauffällig. An der Längsseite entdecke ich deutlich die Gravierung „GS". Diese Seite des Steins gehört demnach zur Gemarkung Schönenberg. In die nach oben gewandte Fläche ist eine Kerbe eingeritzt. Sie entspricht der Richtung aus der ich komme und weist weiter geradeaus den Berg hinauf. Ich bin also auf der Grenzlinie angekommen. Ein Blick in die Karte gibt mir Recht: Ich bin auf der richtigen Spur.

2.1 Immer den Kamm entlang
Die Kerben auf den Steinen leiten mich stetig den Berg hinauf. Links liegt die Gemarkung Schönenberg, rechts die Gemarkung Aitern. Die Karte zeigt mir nicht nur den Grenzverlauf an, der erstaunlich genau mit den Richtungsangaben der Steinkerben übereinstimmt, sondern vermittelt mit ihren gestalterischen Mitteln auch die Positionierung des Verlaufs in der Landschaft. Die feinen Höhenlinien machen deutlich, dass sich mein Weg immer entlang des Bergkamms des Letzberges windet. Je enger sich die gezeichneten Linien aneinander schmiegen, desto stärker ist die Steigung. An ihrem Höhepunkt verläuft der Bergkamm. Löse ich den Blick von der Karte, bestätigt mir die Realität die geographische Angabe. Zu beiden Seiten geht es bergab. Es ist, als teile die Grenze den Berg exakt in der Mitte. Es liegt auf der Hand, dass die Grenze nicht zufällig einen derart auffälligen Verlauf nimmt. Und tatsächlich hat die topologische Positionierung der Grenze eine ebenso banale wie 7 einleuchtende Begründung: Die Grundlage einer jeden Siedlung ist das Vorkommen von Wasser als lebenswichtiger Ressource. Wulf Springhart weiß mir in unserem Gespräch zu berichten, dass das Wasser nicht nur als Nahrungsmittel, sondern auch bei der Viehhaltung und dem für Schönenberg so wichtigen Bergbau unverzichtbar war. Um die Nutzung des Wassers zu gewährleisten, ist der Anspruch auf die Quelle und den Bachverlauf ausschlaggebend. Der Kamm eines Berges stellt eine natürliche Wasserscheide dar und markiert die Grenze, von wo aus die Quellen ihr Wasser auf der einen oder anderen Hangseite hinableiten. Der Grenzverlauf entlang der Wasserscheide war somit die logische Regelung der Wassernutzung zwischen den Siedlungen.
Das Quellwasser wird häufig direkt vor Ort genutzt und in betonierte Viehbrunnen geleitet.

2.2 Sichtbare Grenzen
Der Blick in die Natur zeigt auch im Bewuchs Auffälligkeiten, die der Linie auf dem Papier entsprechen. Während rechterhand ein undurchdringliches Nadel-Dickicht abfällt, schmiegen sich linkerhand luftige Laubwälder an den Hang. 8 Wie mir Springhart später erklärt, ist dieses Phänomen, wie der Grenzverlauf auf dem Bergkamm, das Resultat menschlicher Kulturtechnik. Die Gemarkungen sind nicht nur territoriale Flächen, sondern in erster Linie besiedeltes und genutztes Land. Die einzelnen Gemarkungen bewirtschaften ihr Land je nach Lage und Beschaffenheit unterschiedlich. Diese Unterschiede in der Nutzung werden in der Landschaftsgestaltung deutlich. Gestaltung ist hier wörtlich gemeint, denn die auffälligen Häufungen bestimmter Baumarten oder abrupte Waldgrenzen lassen bei näherem Hinsehen das menschliche Einwirken erkennen. Hier wird die Landschaft kultiviert im Sinne des ursprünglichen Kulturbegriffes, den Aleida Assman in ihrer Einführung in die Kulturwissenschaft anführt. Kultur entstammt, wie sie hervorhebt, dem lateinischen „colere", was soviel wie pflegen bedeutet
5. In der Schwarzwaldlandschaft um die Gemarkung Schönenberg wird deutlich, wie der Mensch seinen Grund und Boden pflegt und instandhält: Forstwirtschaft und Weidewirtschaft prägen das Bild. Meist herrschen auf den bewaldeten Flächen die charakteristischen Mischwälder aus Buchen und Tannen vor. Hauptsächlich bestimmt jedoch die Lage die Vegetation. Die Höhenstufung in der Gemarkung Schönenberg reicht von submontan, d.h. unterhalb von 700 Metern, bis subalpin und ermöglicht somit eine große Bandbreite von Baumarten: Hainbuche, Birke, Eiche, Esche, Fichte, Tanne, Kiefer, Douglasie und Lärche sind in den Wäldern zu finden. Dabei halten sich Waldflächen und Offenland, das hauptsächlich als Weidefläche genutzt wird, in Schönenberg größtenteils die Waage.6 Die großen freistehenden Weidbuchen sind typisch für die Vegetation Schönenbergs und dienen dem Vieh als Schutzbäume. 9 Das offensichtlichste Merkmal eines Grenzverlaufs sind jedoch die Grenzsteine: Jene Blöcke aus Sandstein oder Granit, die in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen die Grenze markieren. Auf meinem Weg wird es mir nicht gelingen, jeden der Steine zu entdecken. Zu vage sind die Richtungskerben und das richtige Deuten der Kartenlinie ohne Kompass. Außerdem sind nicht alle Steine gleichermaßen gut erhalten. Während einige, groß und aufrecht stehend, nicht zu übersehen sind, versinken andere bereits im weichen Waldboden, wurden bei Waldarbeiten einfach umgestürzt oder sind völlig mit Moos überwuchert. Oftmals sind sie erst auf den zweiten oder dritten Blick zu entdecken.


   

Gemein sind ihnen jedoch die Einprägungen auf den Seiten, die mehr oder weniger deutlich zu lesen sind. Auf den der Gemarkung zugewandten Flächen sind jeweils die Initialen der entsprechenden Gemeinde eingraviert: „GS" steht für Schönenberg. Auf der Oberseite zeigt eine durchgezogene Kerbe den Richtungsverlauf der Grenze an. Dieser kann geradeaus oder um die Kurve weisen, oder aber das Zusammentreffen mehrer Grenzlinien verdeutlichen. 10


3. Verirrt im Rübgartenwald

Nachdem ich mich relativ gut mit der Karte und den Richtungshinweisen der Steine zurechtgefunden habe, verliere ich auf der Höhe von Multen ihre Spur. Laut der Karte in meiner Hand kann die Grenze nicht allzu schwer zu finden sein. Die Linie kreuzt die alte Belchenstraße und führt querfeldein auf dem Kamm des Rübgartenwaldes in Richtung Belchengipfel. Ich erreiche die Talstation der Belchenseilbahn und empfinde die plötzlichen Ansammlungen von Wandertouristen nach meinem einsamen Aufstieg durch den Wald als unangenehm. Befremdete Blicke begleiten mich, als ich den vorgesehenen Weg verlasse und ins Unterholz steche. Doch so sehr ich meine Augen ,im „Zick-Zack-Kurs" den Wald durchquerend, auch anstrenge, ich kann keinen der Grenzsteine entdecken. Häufig werde ich in die Irre geführt, da zahlreiche bemooste Baumstümpfe eine tückische Ähnlichkeit mit versunkenen Grenzsteinen aufweisen. Meine Motivation sinkt. Entmutigt halte ich mich an die einzigen Orientierungsinstrumente, die mir bleiben: Die Karte, die Verortung von Fixpunkten wie der Belchenstraße und dem Belchengipfel durch Gehör und Sicht und schließlich reiner Intuition. Glücklicherweise stoße ich immer wieder auf Wanderpfade, die durch den Abgleich mit den wenigen Wegelinien auf der Karte eine ungefähre Lokalisierung erlauben. Mit einer detaillierten Wanderkarte würde man sich diesbezüglich vermutlich schneller zurechtfinden. Nach einiger Zeit mit zähem Querfeldeinmarsch und angestrengtem Suchen entdecke ich tatsächlich endlich wieder Grenzsteine. Neben dem größeren, der dem gewohnten Aussehen entspricht, befindet sich ein um einiges kleinerer, neuer aussehender Stein. Der mittlerweile routinierte Vergleich mit der Karte lenkt meine Aufmerksamkeit auf ein kleines Dreieck, das an einer Stelle eingezeichnet ist, die mit meiner momentanen Position übereinstimmen könnte. 11

Der rechte Stein bezeichnet mit einer dreieckigen Gravierung den topographischen Punkt. Dasselbe Dreieck ist rechts der Höhenangabe von 916m in der Karte eingezeichnet. Die pinke Linie symbolisiert die Grenze.



3.1 Die Wildnis auf Papier
Die Übereinstimmung der Linienführung auf der Karte mit der Abfolge der Grenzsteine in der Natur ist erstaunlich exakt. Der Umriss der Gemarkung muss präzise geplant gewesen sein, bevor die Steine mit dem entsprechenden Aufwand durch den Wald geschleppt und an Ort und Stelle positioniert wurden. Einer solchen Planung müssen zunächst genaue Messungen vorangegangen sein, deren Ergebnisse eine Abbildung auf Papier ermöglichten. Springhart erklärt mir, dass, um solche Messungen durchführen zu können, einzelne sogenannte topographische Punkte in der Natur festgelegt wurden, die als Ausgangspositionen für  Messverfahren dienen sollten. Meist wählte man markante Stellen, die gut sichtbar auf Bergspitzen, neben alleinstehenden Bäumen oder Felsen lokalisiert waren. Man spannte also ein Netz, das aus natürlichen Markierungen bestand und einer Kulturpraktik zur Transformation von Natur in graphische Zeichen diente: der Vermessung durch Triangulation. Bei Kenntnis des Abstandes zwischen zwei bekannten Punkten sowie zweier anliegender Winkel kann bei diesem Verfahren mittels  trigonometrischer Gesetzmäßigkeiten die Position des gesuchten dritten Punktes des Dreiecks ermittelt  werden. Mit dieser Technik ist demnach die genaue Bestimmung aller Punkte eines beliebigen Dreiecks in der Natur möglich. Durch das Aneinanderfügen einer ganzen Serie solcher Dreiecke können schließlich weite Flächen vermessen werden. Die Messergebnisse erlauben sodann eine Aufzeichnung der Punkte auf Papier. Der Topographie geht also eine Topologie voraus, welche als Lehre des Ortes klarstellt, wie bestimmte Punkte in Lagebeziehung zueinander stehen. Springhart weist mich im Gespräch darauf hin, dass diese Technik bereits bei den Römern Verwendung fand und um 1800 erstmals zur Erstellung von Karten genutzt wurde. Daniel Kehlmann beschreibt in seinem Roman „Die Vermessung der Welt" wie auch der Mathematiker Carl Friedrich Gauß und der Naturforscher Alexander von Humboldt sich dieser Technik bedienten. Die so entstandene Karte schuf durch ihre Komprimierung der Realität die Grundlage jeglicher Planung. Es entstand der Möglichkeitsraum, den auch Gugerli und Speich in ihrem Aufsatz zur Macht der Karte beschreiben:
„Sie [die Karten] eröffnen einen Möglichkeitsraum, indem sie ihren Leserinnen und Lesern ein Handlungspotenzial offerieren, das zur Veränderung der Realität einlädt."7,12

3.2 Von A nach B
Unter die eben genannte Veränderung der Realität fällt die oben bereits erwähnte Landschaftsgestaltung, aber auch die Besiedlung und nicht zuletzt das Anlegen von Verbindungswegen. Springhart ergänzt hierzu, dass die Wegenetze im Laufe der Zeit deutlichen Veränderungen unterworfen wurden. Galt es im Mittelalter noch den kürzesten, direktesten Weg zu finden, um unnötige Umwege zu vermeiden, mussten mit der Entwicklung des Automobils neue Wege angelegt werden. Was zu Fuß oder mit dem Pferdegespann möglich gewesen war, schafften die damals noch schwachen Motoren nicht. Bald wanden sich Forststraßen in Serpentinen durch den Wald. Die leistungsstarken Maschinen von heute sind nicht mehr auf die Umfahrung der steilen Hänge angewiesen und so durchschneiden mittlerweile wieder tiefe Traktorenspuren die bewaldeten Hänge. Die  Wege entwickelten sich somit stets in Abhängigkeit des Entwicklungsstandes der Fortbewegungsmöglichkeiten. Neben den Nutzwegen und -straßen schlängeln sich auch zahlreiche Wanderwege durch die Gemarkung Schönenberg. Sie alle sind in einem umfassenden Wegenetz miteinander verbunden. Die unterschiedlichen Anwendungsgebiete des „Möglichkeitsraumes" fordern seine dementsprechende Gestaltung auf dem Papier. Die spezifische Kartennutzung bestimmt, was die Karte hervorhebt. Auf Wanderkarten werden Orte miteinander verbunden, Wegekategorien unterschieden und lokale Besonderheiten markiert. Ihre Entsprechung finden sie in Symbolen und Wegweisern in der Natur.
Farbige Symbole wie die blaue Raute markieren bestimmte Wanderrouten. Sie werden entlang des Weges an Bäumen oder Felsen angebracht, um dem Wanderer bei der Orientierung zu helfen. Grenzlinien sind auf solchen Wanderkarten nicht von Bedeutung und so bleibt dem Wandersmann verborgen, ob ihn sein Weg auf einer Grenze entlang führt, sie gar überquert oder an ihrer Linie endet. Er weiß nicht, welche Gemeinde die Schilder auswechselt, wenn der 13 Schriftzug verblasst ist, oder das Bänkchen repariert, wenn es unter den Witterungseinflüssen in sich zusammengesunken ist. Jede Gemarkung trägt die Verantwortung für ihr Wegenetz. Nicht von ungefähr stößt der Grenzverlauf immer wieder auf Kreuzungen und Gabelungen, an denen die Wege enden.

4. Belchen - Den Schwarzwald zu Füßen

 
Die Richtungskerben und das Kartenblatt weisen mich an, den Belchenhang von der steilen Nordseite her, quer durch Heidelbeergestrüpp, hinaufzuklettern. Einen Grenzstein habe ich seit längerer Zeit nicht gesehen, aber ich sehe etliche Meter über mir bereits die Helligkeit jenseits der Baumgrenze durch die Äste schimmern. Da ich aus der Kartenlektüre weiß, dass mein nächster fixer Bezugspunkt der Belchengipfel ist, spornt mich das helle Versprechen, dort oben endlich aus dem Wald herauszukommen, an. Endlich bin ich nur noch umgeben von Heidekraut und einzelnen Büschen. Bald ist es so steil, dass ich nur noch auf allen vieren kriechen kann und mich von Büschel zu Büschel weiter hangele. Als ich den Gipfelrundweg erreicht habe, bin ich völlig erschöpft. Ich bin richtig glücklich, als ich mitten auf dem Weg, einige Meter entfernt von mir, den nächsten Grenzstein aufragen sehe. Auf meinem Weg zum Gipfel sind sie in regelmäßigem Abstand in den Boden eingelassen. Schließlich ist das Gipfelkreuz in Sicht, ich habe es geschafft: Der höchste Punkt der Gemarkung ist erreicht und der Ausblick belohnt für die Anstrengung. 14

4.1 Eine unklare Geschichte

Bei der Betrachtung des Grundrisses der Gemarkung Schönenberg fällt auf, wie unproportional der Belchen im Norden angefügt scheint, als gehöre er nicht wirklich dazu.

Bei Multen verengt sich die Gemarkung, um sich links oben auf das Gipfelgebiet des Belchens noch einmal auszuweiten

Warum wurde offensichtlich darauf bestanden, dass der 1415m hohe Belchen mit seiner kahlen Kuppe noch zu der kleinen Bergbau- Gemeinde gehören sollte? Es scheint naheliegend, diese Frage im Kontext der Ressourcenaufteilung beantworten zu wollen. Da Schönenberg jedoch ohnehin über ausreichend Wald, Wiese und Wasser verfügt, ist dieser Erklärungsansatz nicht befriedigend. Die besondere Lokalisierung mit weitreichendem Blick über das Münstertal und die Rheinebene vor den Vogesen lässt auf eine andere Interpretationsmöglichkeit schließen: Der Völkerkundler Otto Marti sieht die Besiedlung des Schwarzwaldes im Zuge der Eroberungsepoche der Kelten um 700 bis 500 v.Chr. datiert. Von Norden her kommend überrollte dieses Heer von Hirtenkriegern ganz Europa.8 Um ihre militärische Oberhand zu sichern, überspannten sie das Land mit einem lückenlosen Netz von Stützpunkten.9
Bodenfunde und die Berichterstattung anderer Völker bestätigen die Anwesenheit der Kelten in Mitteleuropa während des letzten halben Jahrtausends vor Christi.
10 Einen strategisch derart günstig gelegenen Ort wie den Belchen, mit seiner weitreichenden Sicht und der Uneinnehmbarkeit, ließ das Kriegervolk höchstwahrscheinlich nicht ungenutzt. Auch Springhart macht auf eine mögliche Siedlungsgeschichte im militärischen Kontext aufmerksam. Mit der kleinen Siedlung Schönenberg als Versorgungsstation muss der Belchen einen perfekten Stützpunkt geboten haben. Konkrete Nachweise für diese oder andere Interpretationsweisen der Besiedlung Schönenbergs gibt es nicht, doch es scheint unwahrscheinlich, dass die Hänge des Aussichtspunktes Belchen, hoch über der für die Kelten bis in das erste Jahrhundert nach Christus so wichtigen Rheingrenze, erst um das 10. Jh. besiedelt wurden.11

4.2 Benennungsmacht
Neben der Interpretation alter Grenzlinien sind auch Ortsnamen ein wichtiger Hinweis auf die Siedlungsgeschichte des Wiesentals. Die Kelten teilten nicht nur das Land ihren Bedürfnissen entsprechend auf und legten damit den Grundstein für geltende Grenzen, auch ihre Benennungen von Gebieten und Orten sind noch heute präsent. Die Herleitung der teilweise seltsam klingenden Ortsnamen ist nicht immer eindeutig. Eine Möglichkeit ist es, den Namen aufgrund der ihnen inhärenten Wortteile Bedeutungen zuzuschreiben, wie beispielsweise bei dem Namen Schönenberg die Schönheit des Berges nahe liegt. Gugerli und Speich sprechen in ihrem Text die Macht der Benennung an, welche das Niederschreiben und die damit einhergehende Normierung ausübt. Was auf Papier festgehalten und für offiziell erklärt wird, ist bindend. Im Umkehrschluss lässt sich somit sagen, dass mündliche Überlieferungen oder Erinnerungen keine geltende Aussagekraft haben und ausschließlich alte Karten oder Urkunden als Referenz dienen können. Otto Marti jedoch sieht in der Urkunde zwar eine wichtige, jedoch bei weitem nicht die einzige Geschichtsquelle, welche Auskunft über die Siedlungsgeschichte geben kann. In den meisten Fällen weichen die Namen, welche auf heutigen Karten verzeichnet sind, von ihrer ursprünglichen Form ab.
11 Schönenberg wird urkundlich erstmals 1272 in der Namensform Shonenberg genannt. Die offiziellen Angaben gehen davon aus, dass Schönenberg wie andere Orte des hinteren Wiesentals seit dem 10. Jh. Von Westen her besiedelt wurde. 16 Marti sieht bei einem blinden Vertrauen in schriftliche Zeugnisse die Gefahr, der sensiblen, akkustischen Unterscheidungen zwischen einzelnen Bezeichnungen nicht gerecht zu werden: „Man hat sich stets zu vergegenwärtigen, dass die Urkunde eben nur menschliches Machwerk ist, dem neben andern namentlich die eine Unzulänglichkeit anhaftet, dass es nie gelingen wird, mit Hilfe der herkömmlichen Schriftzeichen die viel zahlreicheren Laute der menschlichen Sprache wiederzugeben."12 Einer sprachgeschichtlichen Untersuchung der Ortsnamen stellt er daher nicht das geschriebene, sondern das gesprochene Wort zur Seite und rückt die Mundart in den Vordergrund. Da wir nun aber recht wenig über die genauen Bedeutungen von Bezeichnungen früherer Sprachperioden wissen, lässt sich schwerlich jede Bezeichnung anhand von einfacher Sinnassimilation aufschlüsseln. Oftmals wurden Bezeichnungen wie beispielsweise Herrenschwand eher appellativisch verwendet, d.h. nicht als feste Ortsnamen, sondern als landwirtschaftliche Bezeichnungen, in diesem Falle als ausgesprochener Rodungsname: Uf der Herrenschwande.13 In diesem Kontext könnte auch das zur Gemarkung Schönenberg gehörende Entenschwand benannt worden sein. Marti hält nicht viel von einer germanistischen Siedlungstheorie, sondern verweist wiederum auf den Einfluss der Kelten. Vielmehr beschuldigt er die Germanistik sie habe „[...] der Forschung Scheuklappen angelegt und sie daran gehindert, den fast unerschöpflichen Wissensquell, der in den Ortsnamen liegt, zu erkennen, zu fassen und der Wissenschaft zugänglich zu machen."14 In seiner sprachgeschichtlichen Siedlungsgeschichte stellt er interessante Möglichkeiten einer Ortsnamen- Etymologie heraus. Er unterscheidet zwischen absoluten Ortsnamen, die rein topographisch auf Höhen-, Ufer-, Tiefenlage, Art der Vegetation, besondere Geländeformen usw. zurückzuführen sind15, und relativen Ortsnamen. Unter letztere fallen für ihn ethnographische, ökonomographische, hierographische oder politographische Kriterien. In seinen Ausführungen weist er bei der Silbe „Scheer" auf eine Abwandlung des keltischen „scara" hin, was dem militärischen Sinn einer Schar entspricht.16 Auf einer Karte von 1973 wird Schönenberg noch als Scheneberg bezeichnet. Die lautmalerische Ähnlichkeit und der auffällige Bezug zum militärischen Sprachgebrauch können Zufall oder ein interessanter Hinweis auf die Siedlungsgeschichte Schönenbergs sein. 12 In Martis Übersicht über die Grenznamen findet sich ein Hinweis auf den Kleinweiler Wildböllen, der ebenfalls zur Gemarkung Schönenberg gehört und 1488 erstmals als „In der wilden Belna" bezeichnet wurde.17 Die keltische Silbe „bel" steht sinngemäß für Scheide, Trenne oder eben Grenze.18 Interessanterweise liegt die kleine Häuseransammlung direkt an der Schönenberger Gemarkungsgrenze.

5. Über die Stuhlsebene in die wilde Belna
Den Belchen im Rücken, nehme ich nun den westlichen Grenzverlauf der Gemarkung in Angriff. Es geht bergab, aber die Belastung in den Knien ist anstrengender als das Aufwärtskriechen durch Gestrüpp. Im Laufe meiner Wanderung habe ich ein Gefühl für Abstände entwickelt. Ich kann mittlerweile abschätzen, wie viel Fußmarsch ein bestimmter Kartenabschnitt bedeutet. Die Karte vermittelt mir einen Streckeneindruck und durch das Abgehen und Suchen versuche ich diesen zu verifizieren. Jeder gefundene Grenzstein bestätigt meine Interpretation der Karte. Das Papier gibt mir durch seine symbolische Gestaltung immer wieder Anhaltspunkte: einen Straßenverlauf, Höhenunterschiede, Bachläufe oder Bewaldungsgrenzen. Doch direkt vor Ort sind die Wege länger, die Wälder größer und die Abhänge steiler, als die Karte es mir mit ihrer Semiotik vermitteln kann.

5.1 Den Ort sehen – den Raum erfahren
Die Karte ist eine Ansammlung von Punkten, die sich zeichenhaft miteinander verbinden. Sie bilden ein Gefüge aus Namen, die zueinander in Beziehung stehen. Durch einen semiotischen Zeichenvorrat werden sie in Relation zur Realität gesetzt: So stehen grüne Flächen für Bewaldung, Höhenlinien für bergiges Gelände und Linien von unterschiedlicher Dicke für die Verbindungswege zwischen den Punkten. Gemäß der Raumtheorie Michel de Certeaus entspricht die Karte seiner Definition eines Ortes: Als eine Ordnung, die die Koexistenzbeziehung einzelner, für sich selbst stehender Elemente regelt, vermittelt ihr Abbild der Realität eine gewisse Stabilität.
19  Benennungen und Vermessungen sind vollzogen und die Karte ist ein genormtes Werkzeug, das zum Gebrauch einlädt. Doch die Natur bewegt sich, der Mensch belässt Orte nicht in ihrer Form, sondern neigt dazu, sie stetig erweitern, vergrößern, erneuern oder einfach verändern zu wollen. Er betreibt Forstwirtschaft, baut Häuser und Straßen, bahnt sich neue Wege oder leitet Gewässer um. Kurz: Er macht etwas mit den Orten 20. De Certeau fasst diese unermüdlichen Bewegungen in der Verbindung von Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und der Variabilität der Zeit zusammen. Dieses Geflecht von beweglichen  Elementen nennt er den Raum. Er ist ständig im Werden, mit de Certeaus Worten ein Akt der Präsenz.21 Sein Beispiel einer Straße, die zunächst durch den Urbanismus geometrisch als Ort festgelegt ist und durch die Gehenden schließlich in einen Raum verwandelt wird, macht den Unterschied zwischen Ort und Raum deutlich. Auch die Gemarkungsgrenze Schönenberg ist durch die Einzeichnung auf meiner Karte zunächst nur ein Ort. Durch die Bestückung mit Grenzsteinen entlang einer geformten Linie in der Natur allerdings, und nicht zuletzt durch meine Begehung, wird sie schließlich zu einem erfahrbaren Raum. De Certeau sagt: „Ein Raum ist ein Ort, mit dem man etwas macht."22 Dieses Machen kann aus unterschiedlichen Herangehensweisen heraus verstanden werden. Der Raum kann zunächst einmal erkannt und somit rein visuell erfahren werden. Ein Blick in die Karte gibt Auskunft über die Ordnung der Elemente, aus denen der Raum besteht und bedient sich einer eher „symbolischen Sprache des Raumes."23 Es entsteht also ein Bild, das zu weiteren Handlungen motiviert. Die aktive Umsetzung dieser Handlungen erfolgt in einer „anthropologischen Sprache des Raumes", die es dem Menschen erlaubt, aktiv den Raum zu gestalten. Eine Beschreibung eines Raumes kann sich beider Sprachen bedienen und so den Raum sowohl in Bewegung als auch hinsichtlich seiner Bestandteile und deren Beziehung zueinander abbilden. De Certeau unterscheidet hierbei die Beschreibungsform der Karte und die der Wegstrecke. Während die Karte also ein Bild des Raumes anbietet, schreibt  die Wegstrecke Bewegungen vor, die den Raum anwendbar machen.24 Damit bin ich wieder an dem zuvor beschriebenen, statischen Streckeneindruck angelangt, den die Karte mir vermittelt. Durch sie lerne ich den Raum kennen, doch erst durch die Begehung kann ich von tatsächlicher Erfahrung sprechen. Die Richtungskerben in den Grenzsteinen sind hierbei die Anweisungen, die mich entlang meiner Wegstrecke durch den 20 Raum leiten. Sie initiieren eine Art semiotischer Praktik, die den Raum selbst zur Karte macht: Von Stein zu Stein. Diese Wegstrecke in der Natur bedingt die symbolische Ordnung der Karte auf Papier. Vor dem System der geographischen Orte steht also der Raum, der durch seine Aktivitäten und Praktiken die Ordnungen vorgibt, die die Karte symbolisiert.

5.2 Die Linie in der Natur
Inzwischen habe ich die obere Stuhlsebene erreicht. Ich stehe wieder an einem topographischen Grenzpunkt, der die Doppelfunktion der Abgrenzung und des messtechnischen Bezugspunktes innehat. Linker Hand liegt die Gemarkung Schönenberg, das Tal rechts von mir gehört zur Gemarkung Böllen. Die dazwischen verlaufende Grenze ist hier ganz deutlich zu erkennen. Wie in die Landschaft gemalt, verläuft eine schnurgerade Linie auf dem Bergkamm zwischen den Gemarkungen. Auf der Schönenberger Seite ist das Gras schon etwas verdorrter, vermutlich ist auf dieser Hangseite die Sonneneinstrahlung stärker. Dadurch hebt sich die Grenzlinie auch als farblicher Kontrast ab. Des Weiteren ist ein Weidezaun exakt entlang dieser Linie gezogen. So deutlich habe ich die Grenze auf meinem Weg bislang noch nicht gesehen.

 

Spätestens die Traktorspuren und die Zaunpfähle verraten den menschlichen Einfluss auf diese Linie. In ihren Untersuchungen zu einer Anthropologie des Graphismus betont Sybille Krämer diese Konstruiertheit von Linien, auch und gerade in der Natur. Die Einschreibung der Linie in der Natur erfolgt durch den Menschen und verwandelt die dreidimensionale Natur 20 in eine zweidimensionale Fläche, eine Schreibfläche.25 Tatsächlich bin ich auf meinem Weg auf einige künstliche Linien gestoßen, die die Gemarkung in einem zweidimensionalen Gefüge abbilden: Die angelegten Wege, die Pfeile auf den Wegweisern, mein Kartenmaterial und schließlich auch die Spur, die ich selbst durch das Dickicht gezogen habe. Dennoch muss ergänzt werden, dass ich auch zahlreiche natürliche Linien entdecken konnte: Die Schleimspur einer Schnecke auf dem Waldboden, die Maserungen auf der Oberfläche der Baumstümpfe, Die schnurgeraden Halme des Waldgrases und sind nicht auch die Pfade, die das Wild im Wald hinterlässt, natürlich entstanden? Für Sybille Krämer handelt es sich bei diesen Mustern jedoch nicht um Linien im graphischen Sinne, sondern um Spuren, die als  Indizien für etwas dienen, das durchaus natürlich sein kann. Ohne Krämers These hier weiter diskutieren zu wollen, muss man sich fragen: Wann spricht man von Linie und wann von Natur? Und wenn die Linie etwas Künstliches, Konstruiertes ist, muss sie sich dann gegen die Natur behaupten? Was ist der Status der Linie in der Natur?  Wenn die Linie vom Menschen hervorgebracht wird, so kann sie nur ihm zu Nutzen sein. Sie bietet ihm Anhaltspunkte wo die Natur für ihn zuweilen unleserlich bleibt. So formuliert der Mensch die Spur einfach zur Linie um und macht sie somit für sich anwendbar. Auf diese Weise wird aus einem Trampelpfad ein eingezeichneter Weg auf der Karte. Der Mensch zeichnet Linien auf Papier, um sich zu orientieren und schließlich zieht er Grenzen, um über die Natur  verfügen zu können. Er gräbt tiefe Furchen in den Ackerboden und sät entlang dieser von ihm geschaffenen Linie sein Saatgut. Er macht seine Umgebung urbar, er kultiviert die Natur. Die Linie wird also zum Instrument im Umgang mit der Natur. „Kulturtechniken sind [...] operative Verfahren zum Umgang mit Dingen und Symbolen [...]"26 Das Ziehen einer Linie, sowohl die Errichtung eines Weidezauns als auch die Bestimmung eines Grenzverlaufs, ist eine solche Kulturtechnik, als deren Ziel der Umgang mit der Natur steht. Dabei kann die Linie beides sein: Die Spur einer Geste (Kartenzeichnung) oder der Entwurf einer eigenständigen Welt (Errichten von Grenzsteinen).27  21 Sie ist sowohl auf dem Papier als auch in der Realität mit dem Auge zu verfolgen und setzt die Fähigkeit zu sehen für ihren Herstellungsprozess voraus. Herstellung, Betrachtung und Interpretation einer Linie sind demnach Techniken des Auges und deren Anwendung eine nicht zu unterschätzende Kulturleistung.

6. Erkenntnisgewinn im Richtungswechsel – Google- Earth als neue Perspektive
6.1 Von den Dingen zu den Worten
Meine Begehung ist am 28. Juli 2010 nach ca. 14 Wanderstunden beendet. Nach dem Vorbild Bruno Latours habe ich den Gegenstand meiner Arbeit, die Gemarkung Schönenberg, einer Nahaufnahme unterzogen, um von der tatsächlichen Erfahrung, die ich durch meine Begehung gewinnen konnte, zu den Worten kommen zu können, die ich hier niederschreibe. Indem ich die Grenzsteine gefunden habe, betrachten und berühren konnte, hat sich mein Nichtwissen zu einem Erahnen erweitert. Je mehr Eindrücke ich sammelte und je vertrauter ich im Umgang mit der Karte wurde, desto näher kam ich dem Gegenstand selbst. Wieder zu Hause am Schreibtisch und im Gespräch mit Wulf Springhart hat sich mein Wissen immer weiter transformiert. Wie in einem Puzzle fügen sich immer weitere Informationsbausteine zusammen, revidieren zuvor gezogene Schlüsse oder erlauben ein weiteres Verstehen. Der Prozess der Erkenntnisgewinnung vollzieht sich schrittweise und dreht sich dabei immer wieder um denselben Bezugspunkt. Der Untersuchung liegt demnach eine gewisse Kontinuität der Referenz zugrunde, die auch Latour am Ende seiner Amazonas- Expedition feststellen konnte.
28 Jede Lektüre und jedes Gespräch orientiert sich letztendlich konsequent an der Gemarkungsgrenze entlang der Grenzsteine. Von der Entdeckung des ersten Steins bis zur Abfassung dieses Textes bleibt diese Referenz konstant. Obwohl die Begehung auf Grundlage einer Karte erfolgte, ist der primäre Erkenntnisgewinn hinsichtlich der Raumerfahrung der Praxis vor Ort geschuldet. Wie von Latour gefordert, habe ich die zeitsparende Abstraktion am Schreibtisch beiseite gelassen und die Beschreibung des Details vor Ort vorgezogen.29 Durch diese empirische Herangehensweise wurde eine körperliche sowie visuelle Erfahrung von Aussehen und Beschaffenheit der Gemarkung möglich, die ein reines Kartenstudium niemals erlaubt hätte. Während die Karte topologische sowie topographische Hinweise lieferte, konnte der Blick in die Natur die Theorie mit der Realität abgleichen. Karte und Fußmarsch lieferten einen umfassenden Eindruck der Gemarkung Schönenberg.

6.2 Von den Worten zu den Dingen
Ist für die vollständige Erfassung und befriedigende Beschreibung eines Raumes tatsächlich körperliche Erfahrung notwendig? Was, wenn sich im Zuge der technischen Entwicklung neue „stumme Prozeduren der Wissenschaft"
30 herausgebildet haben, mit denen sich sämtliche Informationen und visuelle Erfahrungen bequem vom Schreibtisch aus erzeugen ließen? Wulf Springhart hat sich eingehend mit den Möglichkeiten des satellitengestützen Kartographie- Programms Google Earth beschäftigt und mir eine völlig neue Betrachtungsweise auf die Gemarkung offenbart. Die Transformation der ursprünglichen, zweidimensionalen Karte in ein dreidimensionales Kartographieerlebnis erlaubt eine abstraktes und doch reales Spiel mit Karte und Realität. Die Satelliten- Photographie von Google Earth dient hierbei als Träger für eingescanntes Kartenmaterial. Die digitalisierten Karten werden mithilfe eines Photoprogramms an die entsprechende Größe angepasst und über das Satellitenphoto gelegt. Eine Blendfunktion des Programms erlaubt die beliebige Überschattung der übereinandergelegten Bildausschnitte. Auf diese Weise ist ein direkter Abgleich der unterschiedlichen Abbildungen möglich.

 Das linke Bild zeigt das Satelliten- Foto der Gemeinde Schönenberg. Auf dem rechten Bild wurde der eingescannte Kartenausschnitt von 1773 darübergelegt. Die meisten der eingezeichneten Häuser sind bis heute erhalten und ihre Positionierungen auf Karte und Satellitenbild stimmen erstaunlich genau überein.

Besonders interessant wird diese Methode im Umgang mit historischen Karten. Es ist verblüffend, wie sehr Waldgrenzen, Besiedlung und Flussverläufe noch immer übereinstimmen. Umso spannender sind Differenzen hinsichtlich der Details, die unwillkürlich Irritation hervorrufen und Neugierde wecken:

Hier wurde derselbe Kartenausschnitt von 1773 und 1778 miteinander verglichen. Das drittletzte Haus, links oben an der Hauptstraße gelegen, fehlt in der rechten Abbildung.

Der obenstehende Abgleich der Karte von 1773 und dem Satelliten-Foto zeigt, dass das Haus dort wieder zu sehen ist.

 Es scheint, als sei das genannte Haus nach der Fertigstellung der Karte von 1773 beispielsweise durch einen Brand zerstört und erst nach Fertigstellung der neueren Karte von 1778 wieder aufgebaut worden. Google-Earth reißt die Grenzen zwischen theoretischem und realem Umgang mit der Natur ein und erlaubt ein Verbinden unterschiedlicher Herangehensweisen hinsichtlich eines gemeinsamen Ziels: der Erfassung und Visualisierung des Untersuchungsgegenstandes. Das Verfahren wäre sicherlich ganz in Latours Sinne, der ebenfalls die Kluft zwischen Worten und Welt zu überwinden sucht. Die Karte als Wort und das Satellitenbild als Welt transformieren die Natur gleichermaßen in Richtung eines Erkenntnisgewinns. Von den Dingen zu den Worten entstehen Karte und Satellitenbild und von den Worten zu den Dingen entsteht die Möglichkeit des 3D- Fluges mit Google-Earth. Das, was konstant bleibt, ist die Referenz, der Bezug auf die Gemarkung Schönenberg.

6.3 Fazit
Alles eine Sache der Perspektive Trotz des realen Anspruchs bleiben dem 3-D- Flug einige Details vorenthalten, die nur eine Begehung vor Ort ermöglicht: Da der Blick aus dem Weltall nicht unter das Blätterdach dringt, bleiben dem Beobachter vor dem Bildschirm vor allem die Grenzsteine verborgen, die doch als Inbegriff einer Grenzziehung gesehen werden können. Er sieht nicht die Bachverläufe, die ebenfalls einen Teil der Grenze bilden und auch nicht die Kreuzungen, an denen die Wege sich gabeln und so den Zuständigkeitsbereich zu einer anderen Gemarkung 24 wechseln. Vor allem aber entgeht ihm die körperliche Erfahrung, die den bleibendsten Eindruck von Größe, Beschaffenheit und Vielseitigkeit der Gemarkung hinterlässt. Nur bei der Begehung vor Ort wird das Verhältnis zwischen ihr und der eigenen Größe deutlich spürbar. Die Gemarkung Schönenberg hat sich mir im Verlauf dieses Projekts auf unterschiedlichste Weise dargeboten. Als Repräsentation in Form einer Karte, die mit ihrem Zeichenvorrat das Bild eines Ortes konstruiert, welches wiederum eine Idee des Raumes erlaubt. Als Visualisierung durch ein Computerprogramm, das mit seinen technischen Möglichkeiten wie ein Labor zur Wissensgewinnung dient. Dieses Labor ermöglicht Experimente, die die physikalischen Grenzen überwinden und unterschiedliche Aspekte zur Veranschaulichung von Erkenntnissen auf einem Bildschirm komprimieren können. Und schließlich habe ich die Gemarkung als erfahrbaren Raum kennengelernt, der zu seiner Erkundung die Beobachtung und Interpretation als Kulturtechniken des Auges abverlangt und gleichzeitig durch meine Begehung erst vom Ort zum Raum wurde.

Der Abschnitt der Stuhlsebene aus drei unterschiedlichen Perspektiven: dem Satelliten-Bild, dem Anblick vor Ort und der Karte

Doch welche Methode ist nun die effektivste? Auf welche Weise lässt sich die Gemarkung Schönenberg ideal abbilden? Ganz im Sinne Latours lässt sich wohl sagen, dass diese Frage der falsche Weg ist, sich der Gemarkung zu nähern. Die Perspektiven, die dieser Arbeit zugrunde liegen sind nicht miteinander vergleichbar, sondern ergänzen sich in ihrer Bezugnahme auf Schönenberg. Die Natur kann niemals exakt abgebildet werden, denn bereits durch den Prozess der Abbildung verliert sie ihre Natürlichkeit. „Sie [die Bilder] verbinden uns über sukzessive Schritte mit der Welt, die ihrerseits ausgerichtet, transformiert und konstruiert ist."31 Gemäß den Ausführungen Latours ist der Blick in die Karte das Resultat unterschiedlichster Transformationen von Wissensbausteinen über die Gemarkung Schönenberg. Wie zu einem früheren Zeitpunkt in dieser Arbeit ausgeführt, ist das, was wir auf der Karte sehen, der Ort, das starre Gefüge einzelner Elemente. Die tatsächliche Begehung jedoch macht die Gemarkung als Raum erfahrbar. Sie steht nicht für die fertigen Wissensbausteine, sondern bringt diese erst durch die Praktiken im Raum hervor oder regt erst zu epistemologischen Überlegungen an. Im virtuellen Labor von Google-Earth schließlich werden die Zeichen und Praktiken zusammengeführt und beide Richtungen eines Erkenntnisgewinns ermöglicht: Das Resultat einer Beobachtung von den Dingen zu den Worten (Karten und Satellitenbild) und der Ausgangspunkt für neue Schlussfolgerungen von den Worten zu den Dingen (Vergleiche von Karten und Satellitenbildern). Letzten Endes sind die Vorgehensweisen, mit denen man sich dem Untersuchungsgegenstand nähert, wie bereits erläutert, einfach unterschiedliche Perspektiven mit dem gleichen Referenzpunkt und dem gleichen Abbildungsziel: Einer kleinen Gemarkung im Schwarzwald.
 

Quellennachweis

Assmann, Aleida (2008): Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin, Erich Schmidt Verlag.

De Certeau, Michel (2006): Praktiken im Raum. In: Dünne, Jörg et.al (Hrsg.): Raumtheorie.
Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag.

Kehlmann, Daniel (2005): Die Vermessung der Welt. Hamburg, Rowohlt Verlag GmbH.

Krämer, Sybille/ Bredekamp, Horst (2003): Kultur, Technik, Kulturtechnik: Wider die

Diskursivierung der Kultur. In: Krämer, Sybille/ Bredekamp, Horst (Hrsg.): Bild – Schrift – Zahl. München, Wilhelm Fink Verlag.

Kreisbeschreibungen des Landes Baden- Württemberg (1993/ 1994): Der Landkreis Lörrach, Band 1/ Band 2. Landesarchivdirektion Baden- Württemberg in Verbindung mit dem Landkreis Lörrach (Hrsg.). Sigmaringen, Jan Thorbecke Verlag.

Latour, Bruno (2002): Kap. 2: Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas. In: Roßler, Gustav (Hrsg.): Die Hoffnung der Pandora. Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag.

Marti, Otto (1947); Die Völker West- und Mittel- Europas im Altertum. Baden-Baden, Verlag für Kunst und Wissenschaft.

Professur für Geodäsie und Geoinformatik an der Universität Rostock (2001): Lexikon, http://www.geoinformatik.uni-rostock.de/einzel.asp?ID=-83398184, Abgerufen am 27.08.2010.

Speich, Daniel/ Gugerli, David (2002): Die Macht der Karte. In: Topografien der Nation. Zürrich, Chronos Verlag.
Interview mit Wulf Springhart am 29. August 2010 in Böllen im Schwarzwald.
 

Quelle:
Teresa Quast
Auf den Spuren der Grenzsteine
Portrait einer Gemarkung im Schwarzwald

Der obige Text ist ein Auszug aus einer Studienarbeit von Teresa Quast an der
Bauhaus-Universität Weimar
Fakultät Medien, Lehrstuhl Geschichte und Theorie der Kulturtechniken
Projektmodul: Kulturtechniken 1, SS 2010

Kontakt:
Teresa Quast, t-quast@web.de, 1.6.2011

 

  Kühe um 7 Uhr vom Burkart-Hof hoch auf die Weid auf der unteren Stuhlebene treiben am 13.6.2006 Blick nach Süden am Sägeneck auf der Stuhlebene am 29.4.2010
  Kühe um 7 Uhr vom Burkart-Hof hoch auf die Weide auf der unteren Stuhlebene treiben am 13.6.2006 Blick nach Süden am Sägeneck auf der Stuhlebene am 13.6.2006
     
     
     
     

 

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